… mein bisheriges Leben, all die Versäumnisse und Misserfolge, die Schwäche, der kurze Atem, das Scheitern…
… was wäre, wenn das alles nur der Beginn war? Eine missglückte Ouvertüre zu einem kreativen, erfüllten Leben, in dem ich Tag für Tag stärker und ausdauernder werde. Resilienz. Wie oft habe ich in den letzten Wochen und Monaten darüber gelesen. Ich wäre gerne ein Fels in der Brandung, nicht nur für mich, sondern auch für andere. Leider bin ich seit meiner frühesten Kindheit ein Sensibelchen. Sauge die Gefühle anderer und das Unglück der Welt auf wie ein Schwamm. Und sitze dann selbst auf dem Trockenen, um dort Zeit und Muße zu haben, mit einer weiteren Eigenschaft zu hadern: meiner blühenden Fantasie. Fluch und Segen zugleich. Ein Segen beim Schreiben von Geschichten, aber ein Fluch im täglichen Leben, wenn sich Geschehnisse, die ich nicht einmal selbst erleben musste, in meinem Hirn zu einem gigantischen CinemaScope-Blockbuster aufblähen und mich zum Protagonisten machen.
Der Anschlag in Wien zu Allerseelen. Und dieses Video. Dieses furchtbare Video, das die Ermordung eines Menschen in mein Wohnzimmer brachte.
Am Tag darauf der Weg ins Büro. Am Bahnhof Wien Mitte gehe ich an Cobra-Beamten vorbei, kämpfe mit den Tränen, fühle mich wie betäubt.
Gestern: Die Verlautbarung des zweiten Lockdowns und einer zweiten Welle, die sich schon in den letzten Tagen, wenn nicht Wochen abgezeichnet hatte.
So vieles im Leben, das schon lange zuvor leise Wellen schlägt. Lange bevor der Tsunami über uns hinwegfegt. Im Kleinen wie im Großen.
Seit Wochen kämpfe ich mit mir, suche nach Worten für meine Gefühle und Gedanken. Ich habe auf den perfekten Tag, die richtige Stimmung, das passende Setting gewartet. Nichts davon ist eingetreten. Heute ist einfach nur ein x-beliebiger Tag in meinem unvollkommenen Leben mit der Erkenntnis, dass es nie den richtigen Zeitpunkt geben wird. Es gibt nur das Heute. Gestern ist schon lange vorbei und ob es ein Morgen geben wird und was es bringen mag, weiß niemand. Ich habe schon viel zu lange gewartet, wertvolle Lebenszeit verschwendet.
Was wäre, wenn ich nun endlich begreife, dass ohne Sensibilität auch keine Empathie möglich ist, dass jedem Fallen ein Aufstehen folgt, dass Schwäche zu zeigen manchmal auch Stärke bedeutet, dass sich ein langer Atem trainieren lässt?
Diese Geschichte hier ist wieder einmal einer meiner vielen Neubeginne, die ich gar nicht mehr zählen mag. Und täglich grüßt das Murmeltier.
Ich lege den Laptop bei Seite, stehe auf und öffne die Tür zum Garten. Meine Lungen füllen sich mit klarer, unverbrauchter Morgenluft, ein feiner Nieselregen streicht über meine Wangen. Da sind noch ein paar Gänseblümchen in der Wiese, die den kalten Nächten trotzen. An ihnen werde ich mir ein Beispiel nehmen. Ich werde mich den Widrigkeiten des Lebens entgegenstellen. Es ist an der Zeit, in meine eigenen Fußstapfen zu treten. Denn sie sind vielleicht größer, als ich dachte.
Foto: © Gabriele Kolup
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